Freitag, 19. Januar 2024

Tell Me Why


In all der Zeit, die vergangen ist, seitdem ich Life Is Strange gespielt habe, ist meine Meinung darüber immer schlechter geworden. Das alleine ist vermutlich der Hauptgrund, warum ich mich gegen Tell Me Why immer ein bisschen gewehrt habe, obwohl es das sogar hier und da schon gratis zu erwerben gab. 
Zum Glück gibt es in meinem Freundeskreis die ein oder andere wichtige Person, die mich dann doch irgendwann noch dazu zwingen kann, über meinen Schatten zu springen. Denn im Endeffekt finde ich Tell Me Why in allen Belangen definitiv besser als Life Is Strange, und das auch wirklich, wenn ich meine Saltyness über Letzteres versuche ein bisschen zur Seite zu schieben.

Man spielt die Zwillinge Tyler und Alison, die in ihrer Kindheit ein traumatisches Ereignis durchleben mussten: Tyler tötete in Selbstverteidigung die alleinerziehende Mutter der beiden. Danach wurde er einige Jahre in einer Erziehungsanstalt untergebracht, was für mich btw. der einzige Kritikpunkt an dieser ganzen Geschichte ist. Ich meine - und ja, ich greife jetzt eigentlich vor - er war damals ein Kind, die einzige Zeugin Alison hat ausgesagt, dass Mary-Ann (also die Mutter) ihn mit einer Schrotflinte erschießen wollte, und das wurde so ein bisschen wie richtiger Mord behandelt? Also auch durch die Tatsache, dass Eddie, der neue Vormund von Alison, dieser verbot ihren Bruder auch nur zu sehen, spricht für diese Annahme, und das hat mich wirklich gestört. 
Aber wie auch immer, darum geht's jetzt eigentlich gar nicht, und es ist wie gesagt tatsächlich so ziemlich das einzige, worüber ich mich leicht aufregen musste.
Zuerst denkt man, dass es vor allem darum geht, dass Tyler als Mädchen geboren wurde und erst in der Anstalt seine Transition durchlebt hat - und Alison nach all den Jahren plötzlich einen Bruder statt einer Schwester hat. Aber in Wahrheit wird das Thema natürlich zwar schon behandelt, aber nur zu Anfang der Geschichte, bis eben die Leute von früher Tyler wieder neu kennenlernen und die ersten Umgangsformen miteinander abgeklärt wurden. Alison hatte damit sowieso nie ein Problem, und selbst über Mary-Ann erfährt man recht schnell, dass auch sie ihr Kind unterstützt hätte, wenn sie noch länger gekonnt hätte. Die ganze Sache ist dabei sehr sensibel und nicht mit dem Holzhammer präsentiert, und wird eben nicht künstlich die ganze Zeit aufgebauscht - später wird es immer irrelevanter, genauso wie es eben sein soll. Tyler ist Tyler. Punkt (und ich liebe ihn sehr).


Mary-Ann ist, blöd gesagt, für mich eigentlich die heimliche Protagonistin des Spiels. Während sie zu Beginn noch irgendwie als Spinnerin und gefährliche Person dargestellt wird, vor allem auch durch die verzerrten Erinnerungen der Zwillinge, erfährt man nach und nach immer mehr und wirklich sehr viel über sie - das hat eigentlich genau die richtige Spannungskurve, und am Ende hatte ich zumindest meine Meinung über sie komplett geändert. Aber auch über einige andere Charaktere.
Ich muss sagen, der Cast war wirklich ziemlich gut. Am Ende konnte ich für jede einzelne Person, außer dem Vater der Zwillinge, der erst spät enthüllt wird, irgendwie Sympathie entgegen bringen. Gerade die Charaktere mit den augenscheinlich größten Schwächen, wie Tessa zum Beispiel, haben alle nachvollziehbare Hintergründe, versuchen aus ihren Fehlern zu lernen und haben irgendwo verborgen ein gutes Herz. Ich habe sie als sehr menschlich empfunden, vor allem in dem Kontext, dass sie einmal wichtige Bezugspersonen für Mary-Ann und/oder die Zwillinge waren.
Außerdem fand ich sehr angenehm, dass es zwar durchaus um dramatische und traumatische Erlebnisse ging, die Zwillinge aber nie in unmittelbarer Gefahr waren oder ähnliches. Es gab keine gekünstelt gefährlichen Situationen, selbst als der Schuppen angezündet wurde, musste man ihn zum Glück nicht selbst löschen oder so was in der Art. Mir hat wirklich gefallen, dass in diesem Fall entschieden wurde, dass das Spiel auch ohne "Action" funktioniert - und die Erzählung reicht als Träger der Geschehnisse für sich selbst wirklich einwandfrei aus.


Natürlich gibt es trotzdem auch Gameplay, das über das übliche Suchen und Angucken von Sachen hinausgeht. Zum Glück, denn das fand ich streckenweise eher anstrengend, weil ich halt nicht zum zehnten Mal nach einem blöden Schlüssel für irgendeine Tür suchen wollte. 
Die Rätsel, vor allem ganz am Ende in diesem Dachgeschoss des Schuppens, haben mir sehr Spaß gemacht. Sie waren nicht besonders schwierig, aber ein bisschen musste man trotzdem nachdenken, vor allem wenn man das "Book of Goblins" dafür zu Rate ziehen musste.
Hier muss ich sagen, dass ich absolut beeindruckt war und bin. Klar, streckenweise fand ich es ein bisschen anstrengend, die ganzen Geschichten teilweise nachlesen zu müssen, was manchmal die Immersion für mich einfach auf "Pause" gestellt hat. Aber alleine, dass es so viele davon gibt! Ich muss mich wirklich vor dieser Kreativität zutiefst verneigen, und vor dem Aufwand, der da drinnen stecken muss! Es sind nicht nur zahlreiche, richtige Geschichten, es gibt dazu Illustrationen, Parallelen zu im Spiel existierenden Figuren, und auch noch verpackte Rätsel! Was für eine tolle Idee! 
Der wichtigste Punkt im Gameplay ist aber die Verbindung zwischen Tyler und Alison. Ganz ohne übernatürlichen Einschlag kommt auch Tell Me Why nicht aus, aber es bleibt wirklich in einem angemessenen Rahmen und passt eben auch zu Geschwistern, die Zwillinge sind. Sich telepathisch unterhalten zu können ist dabei schon das Übersinnlichste daran. Die Fähigkeit, sich gemeinsam an Dinge erinnern zu können, war diesbezüglich auch relativ bodenständig, hätten die beiden Protagonisten dabei die Ereignisse nicht auch noch direkt vor ihren Augen beobachten können.
Bei wenigen dieser Szenen haben beide eine unterschiedliche Überzeugung, was wirklich passiert ist, und da kann man sich dann entscheiden, welche Version man als "die Wahre" ansieht. Ich mochte das bei Kleinigkeiten, weil ich dadurch irgendwie ein bisschen mitgestalten konnte, wie vor allem Mary-Ann von den Zwillingen nochmal neu wahrgenommen wird. Und ich war Fan von Mary-Ann. Aber bei wirklich wichtigen Sachen? Puh, da musste ich erst mal drüber nachdenken. Daher war ich im ersten Moment mit den zwei Wahlen für das Ende nicht vollkommen zufrieden. Aber inzwischen denke ich, und das ist in dem Spiel meiner Meinung nach auch das zentrale Thema: Für sich selbst kann man trotz allem seine ganz eigene Ansicht davon haben, was tatsächlich passiert ist.


Grundsätzlich kann man entscheiden, ob Mary-Ann tatsächlich an diesem letzten Tag so zerstört war, dass sie entschieden hatte sich selbst und die Geschwister umzubringen ODER dass sie nur sich selbst töten wollte, das alles ein Missverständnis war, sie ihnen nie etwas Böses wollte und das, äh, Tötungsdelikt eine tragische Verkettung von Wahrnehmungen war.
Ich habe mich deshalb für Ersteres entschieden, weil ich vor allem Alison ihren Frieden geben wollte. Sie und Tyler mussten schließlich hoffentlich noch viele Jahre mit dem weiterleben, was geschehen war - und daher wollte ich wirklich, dass sie beide überzeugt sind, gerechtfertigt gehandelt zu haben. Und außerdem hat es mir natürlich widerstrebt, ausgerechnet dem Arschloch-Vater recht zu geben, der meinte, damit von seiner eigenen Schuld ablenken zu können. Das ging mal gar nicht.
Trotzdem bin ich, wie gesagt, ein Fan von Mary-Ann, und für mich selbst eigentlich der Überzeugung, dass sie ihren Kindern nie etwas getan hätte. In meiner eigenen Version war alles ein Missverständnis, aber keines, dass Alison und Tyler irgendwie verhindern hätten können - ich bin auch überzeugt davon, dass sie an diesem Abend ganz sicher waren, dass ihre Mutter sie umbringen würde. Und daher ist es eigentlich nicht mal mehr besonders relevant, außer vielleicht in der Art, wie sie Mary-Ann in Erinnerung behalten. Aber mit all den anderen Dingen, die sie über sie herausgefunden haben, bin ich trotzdem sicher, dass sie gegen Ende weitaus weniger geglaubt haben, sie wäre allgemein eine schlechte Mutter gewesen. Deshalb kann ich damit auch leben.
Hauptsache, der Vater bekommt was er verdient, und Hauptsache Tyler ist mit Michael glücklich. Äh, ich meine, Tyler und Alison sind glücklich. ;P


Wie auch immer, Tell Me Why ist ein rundum gelungenes, gefühlvolles Spiel, mit absolut tollen Charakteren und einer rührenden Geschichte, von der ich wirklich nicht glauben kann, dass irgendjemand zum Schluss die Wahl treffen möchte, dass die Zwillinge ihre Verbindung verlieren? Seriously, wer könnte das übers Herz bringen??? (außer natürlich für das Achievement)
Ich würde es jederzeit und absolut vorbehaltlos empfehlen. Ein wirklich toller Werk, Gott sei Dank hat man mich dazu überredet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen