Sonntag, 12. Oktober 2025

Until Then


Ich bin inzwischen ziemlich vorsichtig bei Spielen geworden, die Alltagsleben präsentieren, weil ich immer glaube, dass „Slice of Life“ mir zu langweilig ist. Aber eigentlich stimmt das nicht. Gut gemachtes Slice of Life mag ich nämlich anscheinend durchaus, oder warum hätte ich sonst bereits in der ersten Spielstunde von Until Then das Gefühl gehabt, dass hier etwas Großes vor mir liegt. Meine Erwartungen waren durchaus schon hoch, weil eine mir sehr wichtige Person es bereits sehr gehypted hat, aber gleichzeitig überschneiden sich unsere Geschmäcker dann auch nicht immer so wahnsinnig gut (komischerweise aber ausgerechnet zum bei Beispiel Danganronpa, das wir beide sehr mögen), also habe ich zumindest versucht, meine, äh, horses zu holden. Oder so. Und dann hat mich eben bereits der Anfang ziemlich weggefegt. Man merkt Until Then von Anfang an die Liebe zum Detail an, spürt schon das vorhandene Feingefühl für allerlei Situationen und wird sofort ausgezeichnet unterhalten. Dabei passiert gar nicht so viel, aber wie es präsentiert wird ist sofort absolut überzeugend. Ob es nun um ein Schulprojekt geht, um eine Unterhaltung mit Freunden oder einen kurzen Blick auf Social Media, das Spiel saugt einen sofort in seine Welt und hört über ganze ungefähr 20 Stunden nicht mehr auf damit. Klar, es wird natürlich dann auch wirklich dramatisch, mysteriös und emotional, aber wirkliche... Dinge... passieren erst, wenn man dem Ganzen schon lange hoffnungslos verfallen ist. Und dann schmerzen bestimmte Vorkommnisse natürlich umso mehr. Until Then ist wirklich richtig gut gemacht. 


Wir folgen dem Leben von einem jungen Mann namens Mark Borja, der noch zur Schule geht, aber alleine lebt. Seine Eltern arbeiten in Übersee, um ihm ein angenehmes Leben finanzieren zu können, er sieht sie aber dafür nie. Wem es seltsam vorkommt, dass die Eltern ständig ihre Flüge nicht schaffen und nicht einmal zu Weihnachten kommen können, der darf sich das gerne für später merken. Until Then hat sehr viele so minimale Hinweise, die einem als Spieler irgendwie nicht ganz schlüssig erscheinen, aber es passiert so viel und es gibt so viele solcher Situationen, dass man halt auch nicht ständig an alles denken kann. Mit Marks Freundeskreis ist es recht ähnlich. Wir werden sehr früh seinen beiden besten Freunden Cathy und Ridel vorgestellt, mit denen er seit junger Kindheit viel Zeit verbracht hat. Obwohl sie nicht mehr alle in dieselbe Klasse gehen und auch ihren eigenen Interessen folgen, sind diese beiden eigentlich die wichtigsten Personen in Marks Leben. Auch hier spürt man als Spieler so gewisse Vibes - und auch wenn es bei Ridel sicherlich eher an der Tatsache liegt, dass er sich aufgrund seines Erfolgs als aufstrebender Filmemacher von den Freunden entfernt, ist es bei Cath so viel schwieriger, den Finger drauf zu legen. 
Man wird also sehr behutsam, aber nicht ununterhaltsam in diesen Alltag eingeführt, lernt auch einige neue Leute kennen, besucht ein Schachtournier oder ein Krankenhaus, tritt einem Piano-Club bei und der Spieler weiß eigentlich gar nicht so genau, wo das alles hinführt. Beziehungsweise hat man gar nicht unbedingt das Gefühl, dass es irgendwohin führen muss. Die Thematik des "Deaj Vu" taucht nach einer Weile auf, bei der es darum geht, dass einige unserer Protagonisten sich an Dinge erinnern zu meinen, die gar nicht passiert sind - so Kleinigkeiten wie ein falsches Wetter oder so etwas. Eine talentierte Schülerin namens Louise hat sich diesen Mysteriums angenommen und erforscht es in der Hoffnung, damit später auf eine Elite-Uni gehen zu können. Ihr hilft man da auch so ein bisschen, und natürlich weiß der Spieler, dass da noch einiges kommen wird und das Spiel sich vermutlich irgendwann auch sehr stark darum drehen wird. Außerdem gibt es ja noch dieses wabernde Unheil aus der Vergangenheit, das sogenannte Ruling, wo schlimme Erdbeben und Tornados gleichzeitig die Umgebung heimgesucht, und viel Leid über die Bewohner gebracht haben. 
Aber es ist einem insgesamt gesehen gar nicht unbedingt so wichtig, weil das Spiel Szene um Szene so einnehmend, unterhaltsam und gefühlvoll gestaltet, dass man immer im Moment lebt, statt auf ein fulminantes Finale oder explizites Drama zu warten. 


Ich hebe das nur so heraus, weil ich nun mal der Honk bin, der so etwas normalerweise gar nicht wirklich genießen kann. Ich brauche eine spannende Ausgangssituation, oder ein großes Life-or-Death-Mystery, das es zu lösen gibt, Gefahrensituationen zwischendurch und ein Ziel, auf das ich und mein Verstand hinarbeiten. Dachte ich zumindest. In Until Then war ich in jeder Szene gespannt und aufmerksam, und habe wirklich den Moment gelebt. Und das ist das größte Kompliment, das ich dem Spiel geben kann. 
Die Themen, die hier angeschnitten werden, sind übrigens nicht die einfachsten, es geht nicht nur viel um Traumata verschiedener Arten, sondern auch um Verlust, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Verdrängung, häusliche Gewalt und vieles mehr - daher kann man sich im Startmenü auch zuallererst Triggerwarnungen anzeigen lassen, wenn man sich da lieber vorab ein Bild machen möchte. 

Durch den recht gemächlichen, aber eben nie langweiligen Erzählstil, lernt man auch die Charaktere alle sehr gut kennen und es gibt kaum jemanden, den ich dann am Ende nicht mochte. Selbst Leute, die einem über Stunden lang unsympathisch geworden sind, haben irgendwann noch die Möglichkeit gehabt, dass wir sie in... anderem Licht sehen und besser verstehen können. Auch so eine Wandlung fühlt sich nie irgendwie schlecht gemacht oder cheesy an, und ich würde sagen, dass Until Then erzähltechnisch schon eines der besten - wenn nicht das beste - Spiel seiner Art ist. 
Gut, gegen Ende habe ich nicht alles sofort komplett kapiert, aber da ging es dann ja auch um etwas abgedrehtere Sachen. :D Dabei hat sich das Spiel recht viel Zeit genommen, das Ganze auszuführen, mir war das alles fast schon ein wenig zu lang. Aber ich habe das Ende auch in einer gesundheitlich ein bisschen beeinträchtigten Phase gespielt, vielleicht war das auch mit ein Grund. Aber bis auf die Tatsache, dass ein paar wenige Szenen für meinen Geschmack einfach etwas zu lang und hinausgezogen waren, kann ich sonst nicht wirklich einen Kritikpunkt finden.


Selbst das Gameplay war überzeugend, obwohl man da erst einmal ja nicht viel mehr als Herumlaufen erwarten kann. Es gibt noch das gelegentliche Social Media browsen und chatten, wodurch sich die Welt wie eine lebendige, organische Umgebung anfühlt. Und sehr oft wurde das alles noch durch kleine Minispiele aufgelockert, die sich eigentlich sehr natürlich ins Geschehen mit eingefügt haben. Wer mich jetzt kennt, denkt sich: "Aber Julia, du hasst doch Minispiele?!" und hat auch absolut recht damit. Aber Until Then hat mich eben in vielerlei Hinsicht darüber staunen lassen, was es mich plötzlich mögen lässt, nur weil es in diesem Spiel ist.
Man scheitert auch nicht, wenn man ein Minispiel jetzt nicht schafft, die schlimmste Konsequenz sind ein paar neckende Kommentare, die ich dann aber ja auch verdient habe. Sie alle spielt man genau genommen auch nur ein Mal so wirklich, und dafür habe ich allemal die Geduld. Oft haben sie die Szenen auch einfach bereichert und eingängiger gemacht (das Fischbällchen-Spiel war spaßig, und die Sache mit dem Ball unter dem Becher, der von einem Lichtstrahl verraten wird, einfach eine lustige Szene) und damit das Geschehen auch nicht wirklich unterbrochen, sondern eher einfach auf organische Art und Weise aufgelockert. Technisch gesehen war zum Beispiel vor allem das Karaoke etwas holprig, aber wie gesagt, es gibt keinerlei Konsequenzen, wenn ich dabei schlecht bin. Wie im echten Leben eben, da muss ich ja auch nicht ständig wieder von vorne mit einem Lied anfangen. Mal davon abgesehen, dass ich definitiv besser singen als Rhythm-Gamen kann. Wie auch immer.


Spielt Until Then. Es gibt sicherlich Leute, die ein paar mehr Kritikpunkte haben könnten, und selbst ich habe schon ein paar wenig mehr als mein guter Freund, denke ich... aber ich neige schon sehr dazu zu behaupten, dass es niemanden gibt, der das Spiel als Ganzes nicht mögen könnte. So jemand ist für mich unvorstellbar. Wer es überhaupt anfängt, weil er grundlegendes Interesse an so einer Art Spiel und so einem Genre hat, der kann es nicht nicht mögen. Punkt. 
Ah ja, und wer ein bisschen ein Herz hat und sich deshalb der bester-Charakter-der-Welt-Energie von Cathy nicht entziehen kann... bereitet euch darauf vor, zu leiden. 

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